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John Coltrane - Gott ist eine Klangfläche

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22 Jahre 5 Monate her #2284 von OskarMaria
John Coltrane - Gott ist eine Klangfläche wurde erstellt von OskarMaria
Beitrag aus der Frankfurter Rundschau vom 8. Dezember 2001

Gott ist eine Klangfläche

Mit dem Saxophon zum Kern der Dinge: Es ist Zeit, wieder John Coltrane zu hören

Von Adam Olschewski

Als er noch lebte, war John Coltrane ein Mensch, spätestens nachdem er starb nicht mehr. Seit 1967 wurde er zur Supernova, zum Heilsbringer, Vater unser, Vertilger der Sünden, zur Kniebank - und in jedem Fall: ins Jenseitige gehoben. Kaum ein anderer Musiker des Jazz, nein, kaum ein anderer Musiker überhaupt war im Stande, seine Hörer dermaßen gründlich zu vereinnahmen; ihnen seinen Willen aufzuzwingen; von ihnen Selbstaufgabe zu fordern. Sogar Menschen, die für Jazz nichts übrig haben, kommen einmal, zweimal, dreimal gehört, von ihm nicht los.

In ihrem Standardwerk über den Aufruhr des New Jazz oder Free Jazz, des New Thing oder der New Black Music, das nun, beinahe ein Vierteljahrhundert nach seinem Erscheinen, endlich auf Deutsch vorliegt, zeigt Valerie Wilmer, wie treibend Coltranes gottgeweihte Energie für die Musikszene in den Sechzigern und später noch war. Sie spricht mit Zeugen, verklärt die Zeit. Für sie ist die These zentral, dass der Jazz als eins der primären Ausdrucksmittel der Schwarzen in der Kunst von Weißen entweder boykottiert oder ausgebeutet worden sei; das ist vielleicht richtig, aber lässt für Differenzierung kaum mehr Raum. Was man in Coltrane und die jungen Wilden allerdings spürt, ist die Atmosphäre jener Tage, die im Pop am ehesten mit dem Aufkommen von Punk vergleichbar wäre. Punk und New Thing, ein Zwillingspaar?

Woher, wohin, warum?

Nicht ganz. Denn der Herrgott spricht dazwischen. Spätestens ab seinem Heroinentzug 1957 zog es John Coltrane, neben Ornette Coleman, Cecil Taylor und Sun Ra, dem Schrittmacher des Aufruhrs, zum Höheren. Zu einem Gott, der ganz Klang war; speziell aber: Klangfläche. Immer weniger den Konventionen verpflichtet, verlor er sich in diesen Klangflächen mit seinem ersten Quartett, dessen Besonderheit schwer zu fassen ist. Frei, zugleich aber mit großem Formempfinden, streng, aber nicht wirklich didaktisch, jedoch nie ohne diese Dringlichkeit, die das Einmalige vom Banalen trennt. Schließlich galt es, Fragen zu klären: woher, wohin, warum.

Man kann ihn nicht erklären. Weil er nicht diesseits gelebt hat, sondern offenbar woanders. Deshalb ordnet McCoy Tyner, Pianist im Coltrane-Quartett, in Val Wilmers Buch Coltrane als Botschafter ein, der von Gott gesandt wurde. Auch Albert Ayler, ein treuer Schüler Coltranes, sieht es so: "John war wie ein Besucher auf diesem Planeten . . . während er hier war, versuchte er, neue Ebenen des Bewusstseins, des Friedens und der Spiritualität zu erreichen. Deshalb betrachte ich die Musik, die er spielte, als spirituelle Musik - als Johns Bemühen, näher an seinen Schöpfer heranzukommen." Etwas Unerklärliches muss vorliegen, wenn Augenmaß, das Hörvermögen und die Geruchsorgane bei der Wahrnehmung versagen.

Es scheint Zeit zu sein, Coltrane wieder zu hören - ganz verschwunden war er nie. Vielleicht sorgt man sich in Zeiten des Leistungsabfalls um Energiezufluss. Oder will, von Gottgläubigen bedroht, sich ihnen ebenbürtig stellen. Eine CD-Box ist aus Anlass seines 75. Geburtstages soeben erschienen; ein Loblied menschlicher Schaffenskraft.

Er: live in Europa, zwischen 1961 und 1963. Darin prüft Coltrane - nicht aus Misstrauen, vielmehr aus dem Wunsch heraus, es den Zweiflern zu zeigen - die Schöpfung seines Gottes, den er für den Rest des Lebens nicht aufhören wird anzurufen. Er beweist, dass nichts ohne Hintergedanken geschieht. Wie 1960, als er "My Favorite Things" in 13 Minuten und 41 Sekunden aufnahm. Ein Stück von Richard Rodgers/Oscar Hammerstein II für The Sound Of Music, jenes Musical, das erst am Broadway, dann als Film die Alpen populär machte.

Coltrane hatte vor, das Stück aus der Gefangenschaft seiner Trivialität zu befreien; eine Anmaßung im Dienst des Guten. So oft wie dieses Stück spielte er wohl kein anderes. In der Box aus sieben CDs tut er es sechs Mal, von knapp 14 Minuten aufwärts zu über 25. Er reibt sich und reibt sich daran. Eric Dolphy auf der Flöte soll ihm zweimal helfen, hilft aber nicht. Seine Forschheit steht ihm im Weg. Coltranes Sopransaxofon kreist fortwährend in Beschwörungsformeln. Wieder und wieder guckt aus dem Korb der Gefälligkeit eine nimmersatte Schlange. Und windet sich so anmutig wie gefährlich.

Er wollte in Regionen vorstoßen, zu denen bislang keiner Zugang hatte; seinen Anker im Kosmos legen. Er gründete ein neues Quartett, das exzessiv, ausufernd, meditativ vorging und sich offensichtlich zum Kern aller Dinge vorschälen wollte. Dabei ewig gleich: My Favorite Things; diesmal auf der LP Live At The Village Vanguard Again! Gut 20 Minuten sowie eine fünfminütige Einführung. Ein junger Pharoah Sanders am Tenor schreit vor Schmerz. Es ist, als wäre man dort angekommen, wo man so sehnlich hinwollte; und hätte einen Riegel am Tor vorgefunden, ein Schloss daran. Kein Eingang. Man dreht durch. Aber konstruktiv.

Einige haben ihm damals nicht folgen mögen, andere suchten ihn gerade auf, um sich aufzuladen: Es war bereits die zweite Hälfte der sechziger Jahre und viele Leute unterwegs zu einem Sinn. Man begann, was er vermutlich nicht wollte, an ihn zu glauben. Bitte schön, er kannte die Antworten auf letzte Fragen, nicht wahr, er kannte sie doch?

Was er tat, tat er mit, das muss man so deutlich sagen, seltener Humorlosigkeit. Selbst wenn Val Wilmer behauptet, es gebe deshalb nur wenige Fotografien von Coltrane, auf denen er lacht, weil er zeitlebens mit seinen Zähnen Probleme hatte. Nein. Es war ihm bitterernst, um der Erlösung willen; und Erlösung ist keine Angelegenheit, über die man Späße treibt. So erhebend seine Musik auch sein kann, so - mindestens so - zielstrebig ist sie. Leider wird man in der Zielstrebigkeit leicht verkniffen.

Nächster Halt: Unendlichkeit

Auf einen hellen Punkt strebt Coltrane zu, weit weg noch, aber mit jeder Klangfläche näher. Diese radikale Zielstrebigkeit, nächste Haltestelle: Unendlichkeit, alle aussteigen bitte, setzt die, die zuhören, massiv unter Druck. Nirgends ein Schlupfwinkel, wo es gelingt, für Bruchteile von Sekunden eigenen Gedanken nachzuhängen; nichts, nicht während die Platte läuft. Wenn man sich hingibt, dann nur deshalb, weil vor Ort gelegentlich Einmaliges geschieht, das läutern kann - oder in Gefahr bringt.

Trotz allen gutmütigen Ansinnens ist diese Musik brutal. Rücksichtslos will sie und will und will zum Unsagbaren hin. Dorthin, nirgends sonst. Ganz egal, was es kostet, 40 Minuten - oder ein Leben.

Oft wird es einem zu viel; es greift den Körper an, zermürbt die Zellen. Man wischt sich den Schweiß von der Stirn, ist froh, lebend davongekommen zu sein. So schafft Coltrane, das Sax Gottes, eine paradoxe Situation: Seine Hingabe, die die Gegenwart einer allmächtigen Liebe plus Sternenhimmel verkündet, neigt sich zum Terror hin; der Tonleitern zwar, aber Terror. Es kollidiert mit seinem Naturell, das als sanftmütig und zahm galt. Womöglich deshalb wird man sich nach einem Coltrane-Erlebnis komplett und/oder zerlegt vorfinden.

Zuletzt, etwa drei Monate vor dem Tod, trat er im Center Of African Culture auf. Zum ersten Mal ist ein Set überliefert. "My Favorite Things" firmiert darauf als endgültige Loslösung von allem - manch einer würde sagen: als ein Modell für Chaos. Ist recht. Auf alle Fälle kein Klang mehr, nur Zustand.

Val Wilmer: Coltrane und die jungen Wilden. Aus dem Englischen von Rüdiger Hipp. Hannibal. 333 Seiten. 49.80 Mark; John Coltrane: Live Trane. The European Tours. 7 CDs (Pablo/zyx-music); John Coltrane: The Olatunji Concert. The Last Live Recording. (Impulse!)



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Copyright © Frankfurter Rundschau 2001
Dokument erstellt am 05.12.2001 um 21:06:27 Uhr
Erscheinungsdatum 06.12.2001

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Kater Carlo antwortete auf John Coltrane - Gott ist eine Klangfläche
Interessante Rezensionen.

Die beiden Platten sind aber eher etwas für Coltrane-Fans die alles haben müssen. Das Olatunji-Konzert blieb nicht ohne Grund mehr als 30 Jahre lang im Archiv, und die Pablo-Wiederveröffentlichung ist überteuert wenn man bedenkt dass das meiste davon Mono-Radioaufnahmen sind.

Das beste Konzert aus der Pablo-Box wurde vorher als Einzel- und Doppel-CD Afro blue impressions veröffentlicht.

allmusic.com/cg/amg.dll?p=amg&sql=Anpkku3lganok

Das Album wird der Nikolaus noch heute abend bei Myplay in den Schornstein werfen ;) Bis denne.

[Edit] Nicht mehr pünklich zum Nikolaustag, aber jetzt ist das Album up: www.fkgm.de/Freundeskreis/showthread.php?s=&threadid=687

Carlo
Letzte Änderung: 22 Jahre 5 Monate her von Kater Carlo.

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