Teil 6 meiner Miles Davis Serie bringt einen Mix aus alten und neuen Aufnahmen, für jeden etwas.
Die Myplay-Zugangsdaten gibt es via PN. Pro Tag gehen maximal zwei PNs raus, mit der Antwort kann es also etwas dauern.
MP3-Qualität ist LAME VBR 192kb/s, bei den Mono-Aufnahmen (Bags, Stockholm, Berlin) 112kb/s
Bags groove
(1954)
206.161.132.1/database/md_disco.asp?rec_id=bags_groove&issued=1
Die zweite Seite des Albums enthält das gesamte Tonmaterial, das während des vierten Studiotreffens Davis' mit Sonny Rollins entstanden ist. »Airegin«, »Oleo« und »Doxy« zeigen Rollins' große Begabung als Komponist, sein Talent, die Totalität einer musikalischen Struktur voll zu erfassen. Sie beinhaltet nicht nur wechselnde Akkordfolgen, sondern Rollins komprimiert die Stilmittel, sich ändernde Rhythmen, Tonhöhe und Klangfarbe sowie Melodik gleichwertig zu einem intelligenten Konzept - und zu einem idealen Vehikel für thematische Improvisationen, wie Miles sie liebt. Am deutlichsten spürbar wird dies beim alles überragenden »Oleo«. Dieses Stück lebt nicht nur aus Akkordwechseln, sondern Rollins schafft hier einen strukturellen Rahmen, der einer phantasievollen Ausgestaltung freien Lauf läßt. Für Davis schien dies gleich ein Anlaß zum Experimentieren: die Verstärkung des metallisch klingenden Harmon-Mute-Dämpfers, den er förmlich ins Mikrophon eintauchte. Das Resultat -ein Sound von atemloser Fülle in den Tiefen und florettscharfe Eindringlichkeit in den hohen Registern - scheint als Ausdrucksform Miles auf den Leib geschrieben zu sein. Er erreicht damit eine expressive Breite von verträumter Melancholie bis zu hektischer und manischer Ängstlichkeit.Thematisch ist »Oleo« relativ komplex aufgebaut; die ersten 16 und die letzten acht Takte werden von Trompete und Tenorsax unisono vorgetragen, nur vom Baß begleitet, während bei den mittleren acht Takten die gesamte Rhythmusgruppe zu hören ist. Die sich anschließenden Soli folgen ähnlichen Mustern; jedes Hörn wird nur von Schlagzeug und Baß begleitet, während das Klavier einzig in der mittleren Passage zu Wort kommt. Diese sich wiederholenden »Stop-Chorusse« im Up-Tem-po verleihen dem Stück eine von Dramatik geprägte Geschlossenheit. Der schnelle Titel »Airegin«, derRollins' Liebe zu Nigeria ausdrücken soll, und das gediegene »Doxy«, dessen lötaktige Melodik mit einem betonten Two-Beat-Feeling ausgestattet ist, sowie zwei Takes von Gershwins »But Not For Me« bilden den Rahmen für ebenso eindrucksvolle Chorusse, die, gestützt auf die bewährte Rhythmusformation Silver/Heath/Clarke, das Interesse aller Solisten an neuen Improvisationsformen dokumentieren. Rollins zeichnet sich durch einen lockeren, unorthodoxen Umgang mit der Harmonik aus, der sich hier mit weit auseinander gedehnten »Staccato-Tönen« manifestiert. Die trockene, rauhe Tonbildung -als ironisierende Komponente - wirkt dabei sehr authentisch. Rollins erzielt mit diesen Aufnahmen zweifellos seinen künstlerischen Durchbruch.
Die A-Seite dieses Albums besteht aus zwei Takes des Titels »Bag's Groove«, zugleich der Premiere eines Blues von Milt Jackson, der heute in jedem Jazzrepertoire zu finden ist. Wenn auch Davis den hier mitwirkenden Pianisten Thelonious Monk als »Non-musician« bezeichnet haben soll, entstand aus dieser Zusammenarbeit doch eine der denkwürdigsten Aufnahmesitzungen der 50er Jahre. Wie so oft machte Miles aus der Not eine Tugend. Was er bei Monk als »falsche Akkorde« empfand, war in Wirklichkeit nur moderner und abstrakter Umgang mit dem Tonmaterial. Die Konsequenz: Monk durfte ihn während seiner eigenen Solo-Chorusse einfach nicht begleiten; die Befreiung von jeglicher Piano-Akkordik verhalf Davis zu einer neuen räumlichen Dimension. Wieder bläst Miles zwei Soli - ein langes am Anfang und ein kürzeres am Ende -, die den Kult des reinen Sounds, die bloße tonale Schönheit, zum absoluten Höhepunkt treiben und alle
seine vorherigen Aufnahmen (auch das phänomenale »Walkin'«) übertreffen. Miles' zweite Soloimprovisation ist noch atemberaubender. Mit traumwandlerischem Gespür für melodische Formgestaltung kehrt er weit ausschweifend ins Zentrum der Thematik zurück. Zum strahlenden Sound gesellt sich noch verstärkt eine gewisse, dem Blues charakteristische, expressive Vokalmodulation, die Chico Hamilton einmal schwärmen ließ: »Miles klingt, als ob die ganze Erde singt.«
In Thelonious Monks Solo ist deutlich die Herausforderung spürbar, denn er bemüht sich sozusagen um einen Kontrast: mit besonders eindrucksvollen Dissonanzen und noch längeren Pausen als gewöhnlich hämmert er auf dem Klavier sein Alternativprogramm zu Miles mit eher impressionistisch gefärbten Beiträgen und gibt dem musikalischen Geschehen damit die Spannung des extremen Gegensatzes. Zwischen Miles' erstem und Monks Solo sind die improvisatorischen Einlassungen Milt Jacksons auf dem Vibraphon zu hören, die den anderen in nichts nachstehen. Sein Spiel reflektiert auf andere Weise die Spannung von Miles und Monk; der Aufbau seines technisch vollendeten Solos ist symmetrischer und weniger abstrakt. Take l von »Bag's Groove« erscheint, verglichen mit dem zweiten, ausgewogener und abgerundeter. In Take 2 sind Miles' Improvisationen noch inspirierter, doch mit einigen Unsicherheiten in der Intonation behaftet; zudem ist Monks Begleitung im Vibraphonsolo unausgewogen, und sein eigenes Solo ist dichter angelegt.(Peter Wiessmüller)
Miles Ahead
(1957)
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Das Album »Miles Ahead« ist eine Manifestation der Klangwelt Miles Davis'; sie hängt wie eine »weiße Wolke« über dem ganzen musikalischen Geschehen - traurig, einsam und voller Sanftheit. J. E. Berendt hat einmal gesagt, und wer das Album gehört hat, weiß, was gemeint ist: »Gil Evans ist ein Mann, der den Miles-Davis-Ton am vollkommensten in orchestralen Klang verwandelt - in Sound.« Obwohl jede der zehn Kompositionen aus einer anderen Feder stammt, bilden sie durch die starke Formkraft der Gil-Evans-Arrangements eine suitenartige Geschlossenheit. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, daß die einzelnen Titel fast ineinander übergehen und einem schnelleren Stück ein langsameres folgt. Den Mittelpunkt des musikalischen Geschehens bildet Miles Davis als einziger Solist auf dem samtweichen Flügelhorn, das der Fähigkeit des Improvisators, in sich hinein zu hören, besonderen Ausdruck zu verleihen vermag. Den Hintergrund bilden die ungewöhnlich arrangierten Orchesterpassagen, die Miles Davis wie auf den Leib geschrieben sind.Es gibt selten temperamentvolle Attacken, denn Miles bevorzugt seine weiter stilisierten, lyrischen Improvisationen in melodisch-perspektivischer Linienführung. Lang geschwungen bahnt er melodische sowie dynamische Höhepunkte an; sie verschlingen sich mit den Orchesterlinien, werden von diesen absorbiert, um sich dann davon wieder abzuheben. Bei durchgehend hohem musikalischen Niveau sind das Titelstück »Miles Ahead« (eine gemeinsame Komposition von Davis und Evans), »The Maid Of Cadiz« (hier erscheint schon die Themati von »Sketches Of Spain«) und Ahmad Jarrub »New Rhumba« am gelungensten.(Peter Wiessmüller)
Stockholm 1960 Complete
(4CD)
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Aus der vielgeschmähten Europatournee vom Frühjahr 1960 - übrigens die erste von Miles mit einer eigenen Gruppe - liegen zwei Mitschnitte auf Platte vor, die für jeden Davis-, aber auch für jeden Coltrane-Fan ein absolutes Muß darstellen. Das Doppelalbum der schwedi-
schen Firma Dragon enthält Rundfunkaufnahmen in ganz hervorragender technischer Qualität, die anläßlich zweier Konzerte in Stockholm am gleichen Abend gemacht wurden. Die musikalische Interaktion des Davis-Ensem-bles ist hier von einer Vertrautheit, die jedes Quintettmitglied beflügelt - in keinem Augenblick wird so etwas wie Routine spürbar. Gleich in »So What« wird die traditionelle Methode, ein Solo aufzubauen, vernachlässigt. Miles bevorzugt einzelne Noten, mit tonalen Wechseln und Brüchen; sein Solo zeigt exemplarisch, wie die spontane Eingebung das entscheidende Moment darstellt. Dazu, in formalem Kontrast, »Trane«. Er steigt mit langen, fließenden, fast meditativen Tönen ein und steigert sich mit Akkordschichtungen in eine orgiastische Intensität. Die zweite Version von »So What« wirkt noch geschlossener, mit einem der aufregendsten Soli von Wynton Kelly, die es auf Platte gibt. In »On Green Dolphin Street« zeichnet sich vor allem die Rhythmusgruppe durch ihr knappes, konzentriertes Swingin' aus, und wie Miles wieder einmal durch Auslassung in erregendem Kontrast Coltranes »Sheets of Sound« als rhythmischen Effekt nutzt, ist bis heute sein nicht zu kopierendes Markenzeichen geblieben. In »All Blues« spielt Miles in einem raffiniert angelegten Intro die Struktur frei und setzt so als Bandleader für die folgenden Solisten Maßstäbe.
Die vorliegenden Aufnahmen mit Sonny Stitt -Rundfunkmitschnitte aus zwei Konzerten in Stockholm im Herbst I960 - machen sofort deutlich: der Weggang des Avantgardisten John Coltrane war für Miles nicht nur ein Verlust sondern auch eine persönliche Herausvorderung. An die Stelle seiner Achse mit »Trane« setzte Miles die zu Wynton Kelly. Dies bedeutete zwar eine konzeptionelle Umstellung, ergab aber auch einen reiferen, geschlosseneren Ensemblesound. Entscheidender aber war, daß Miles das äußerst moderne »hornlike«-Spiel seines Pianisten entdeckte und im Dialog mit ihm begann, seine eigenen Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern.Max Harrison schrieb damals über den neuen Stil des Trompeters: »Mit welcher Kraft die hohen Töne angestoßen und ausgehalten werden ... die konzentrierte Leidenschaftlichkeit seiner schnellen Phrasierungen ist ein Indiz dafür, daß Davis mittlerweile über eine musikalische Reichweite verfügt, die eine ebenso heftige wie intensive Ausdrucksweise ermöglicht. . .« Sehr deutlich wird diese »Kraft« im schnellen »If I Were A Bell« hörbar. Miles nimmt die Steigerung in seinem Solo durch Verdichtung der Noten, die er bläst, gleich vorweg: Sonny Stitt, den er schon als Jugendlicher in St. Louis kennengelernt hatte, glänzt mit einem ganz hervorragenden Beboptenor- man hat ihn selten so gut gehört. Die Spannung in seinem Spiel lebt von der Ausgewogenheit, das heißt aus der idealen Synthese der Sonorität seines voluminösen Tons und der drängenden Linearität seiner Improvisationen. Und dann noch einmal Miles: getrieben von Jimmy Cobbs illustrer Besenarbeit ergießt er sein scheinbar unerschöpfliches Füllhorn an Kreativität, und inspiriert damit Wynton Kelly zu herrlichen Paraphrasen. Ähnliche Spontaneität entwickelt sich in den Titeln »On Grecn Dolphin Street« und dem etwas getrageneren »No Blues«. In einem weiteren überragenden »Walkin'« gestaltet die Rhythmusgruppe ständig neue Stimmungen, die alle Solisten, insbesondere Sonny Stitt, beflügeln. Dagegen verunglückt der »All Blues« ein wenig, mit dessen moduler Auslegung Slitt - diesmal auf dem Allo nicht viel an/.ufangcn weiß.
Besonders bemerkenswert ist, daß das Doppelalbum die bislang frühesten Live-Dokumente der Balladen »Autumn Leaves« und »All Of You« birgt. Im düsteren »Autumn Leaves« besticht Miles mit dem Aushallen oder auch plötzlichen Fallenlassen von Noten: er öffnet die Melodik wie eine Knospe, die sich im Zeitraffer zu einer wunderschönen Blüte entfaltet. Und »All Of You« klingt wie eine Liebeserklärung, in der Miles die ganze Zärtlichkeit, der er fähig ist, ausdrückt.(Peter Wiessmüller)