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carl einstein

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22 Jahre 1 Monat her - 22 Jahre 1 Monat her #6993 von chrismess
carl einstein wurde erstellt von chrismess
"Bebuquins Weg durch die 19 Kapitel des Textes zerfällt in zwei Hälften. Zunächst geht er auf einer Art Jahrmarkt ins Museum zur billigen Erstarrnis. Dort gesellen sich Euphemia und Böhm hinzu. Während des zweiten bis neunten Kapitels bewegt er sich mit ihnen in der Welt der Boheme, im Cafe und in der Bar, auf der Straße und zuhause. Das zehnte Kapitel ist das numerische Zentrum des Textes und zugleich das einzige, in dem Bebuquin nicht auftritt. Danach bewegt er sich in traditionelleren und zum Teil weniger großstädtischen Enklaven des sozialen Lebens, im Zirkus und im Kloster, in der Wüste und auf dem Friedhof, auf der Straße und im Zimmer. Erst mit dieser Überschreitung der Stadtgrenzen wird die Großstadt selbst zu einem distinkten Gegenstand der Erzählung. Im letzten Kapitel endet Bebuquin in der teuren Erstarmis, die das Leben kostet. Er macht keine Entwicklung im strengen Sinn durch, doch scheint nach der Hälfte seines Weges die quasi existentielle Verbindlichkeit der äußeren Stationen gewachsen zu sein. Der Tod schließt am Ende keinen Kreis, sondern die Windung einer Spirale, die von einer höheren Ebene auf ihren Anfang verweist. "

"Bebuquin handelt von Formen des Spleens, die eine angedeutete Wertskala bilden. Auf der untersten Stufe verkörpern "ein Ideologe und eine Hure (...) die banalste Form des Spleens." (W 93) Die anderen Akteure werden nicht so offen eingereiht, doch Einsteins Essays und die Tradition des Begriffs legen nahe, zumindest snobistische und dandyhafte Züge Bebuquins, Böhms, Euphemias und auch des Erzählers dieser Skala zuzuordnen. Eindeutig darunter liegen die erwähnten Klassen von Repräsentanten, die Menge. An oberster Stelle stehen der Erzähler, der wie Beckford "aus ornamentalen literarischen Associationen (!)" (W 30) eine Prosa des Spleens konstruiert, und Bebuquin, soweit er als Sprachrohr akzeptiert wird. Der Snobismus, für Einstein ein neuzeitliches Phänomen (W 23), prägt manche Charakteristika der Dilettanten des Wunders.'Die Snobismuskritik ist ein traditioneller Topos des Dandytums, dem der Erzähler manches verdankt, wie die abfällige Behandlung d'Annunzios und schon die Publikumsbeschimpfung gezeigt haben. Denkt man ferner an die Wichtigkeit des Prinzips der >metaphysischem Revolte gegen Realität und gegen die Fixierung auf einen bruchlosen Stil, das der Text befolgt, sowie an die typisierende Darstellung mit ihrer Bevorzugung von Formen des Spleens, die französisierten Ausdrücke und die Weiterführung der symbolistischen Tradition, so sind einige Anzeichen versammelt, die bei aller Vagheit der einzelnen durch ihr Zusammentreffen eine enge Bindung des Erzählers an das Dandytum belegen. Dennoch ist er nicht uneingeschränkt als Dandy zu bezeichnen. Er vertritt die sublimste Form des Spleens, die Elemente des >feineren Snobismus< und des Dandysmus einschließt, ohne in ihnen aufzugehen. Es scheint, als stünden Dandy und Snob auf der imaginären Skala wenigstens eine Stufe unter dem Erzähler. Die tradierte Hierarchie der Gewöhnlichkeit wird nach oben ausgebaut. Über den Dilettanten des Wunders postiert sich ein Erzähler, der als Meister der konstruktiven Art des Kunstwerks ein Wunderbares in Form desTextes erschafft. Einsteins Erzähler hat die Schule des Dandytums konsequent genug absolviert, um seine Lehrmeister zu übertreffen. Bei Baudelaire beschreibt Irving Wohlfarth ein ähnliches Verfahren mit der kaum übersetzbaren, aber treffenden Wendung: "outdandying the dandy"'3.
Einstein ist nicht mit seinen Erzähler zu identifizieren, obwohl es Berührungspunkte gibt. Einige sind deutlich geworden; einer sei noch erwähnt. Im Sinn von Einsteins Bemerkungen zu >Vathek< hat auch >Bebuquin< Züge eines künstlichen Mythos."
(zitate walter ihrig-literarische avantgarde und dandyismus)




aus der decadenten atmosphäre des jahrhundertbeginns ein intellektuelles kabarett, das die artifiziellen figuren in ihre ästhetischen und existentiellen sackgassen treibt. gerühmt von gottfried benn und oswald wiener.
in den 80 ern als wdr hörspiel produziert.
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Letzte Änderung: 22 Jahre 1 Monat her von chrismess.

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21 Jahre 11 Monate her #9129 von chrismess
chrismess antwortete auf carl einstein
Diese Herrnhutische Stadt, worin ich geboren wurde, versandet noch heute den Rhein, reizlos und ärmlich. Man hat dort die besten französischen Möbel geschreinert, und der Portwein der Herrnhuter, die ihre Töchter damals nach dem Los an Missionare verheirateten, war eine gute Sache. Schon morgens nahm man ihn im Elefantenstall. Dies Herrnhuter Viertel war rational und totenstill, geometrisch wie eine alte Jungfer. Die weißen Fenster blieben geschlossen, niemand schaute heraus, pedantisches Empire verbarg große Gärten, woraus mitunter eine weiße Haube lugte. Die Kirche war kahl wie ein Operationssaal, Gott als wei ßes Quadrat.
Der Pöbel wohnte im kleinen Frankreich, ebenso die Stadtverrückten. Dort hing Wäsche, und die Mädchen gingen auf die Rabeninsel am Rhein. Man erzählte Schauerliches. Am kleinen Frankreich vorbei, woraus hie und da ein Stein oder Fluch in die Schloßstraße flogen, ging man ins Fürstliche, beschaute idiotische Schloßpfauen und saß an der Rheinspitze, die den Ruß zerschnitt. Dort träumte man von Ausflügen nach Andernach und schaute nach dem Kirchturm von Leutesdorf hinüber.
Abends saß man vor dem Haus. In der Weinkneipe gegenüber grölten die Schützen gereimte Trinksprüche, man erzählte Mordsgeschichten, wenn man nicht in Sue, dem Zauberer von Rom, Dumas oder Gerstäcker steckte. Als Comble des Witzes wurde mitunter die Eingabe eines Schulmeisters an Friedrich den Großen vorgelesen. Diese langweilige Stadt scheint langsam zu sterben. Ich glaube, die andere Rheinseite hat mehr Verbindungen oder sonstwas. Doch immer noch speien die aufsässigen Männer des kleinen Frankreichs gelassen in den heiligen Rhein.
Nachts saß ich mit meinem verstorbenen Onkel um den runden Tisch. Wir rauchten und lasen Räubergeschichten aus der Leihbibliothek eines stotternden Buchbinders. Man ging spät schlafen und stand spät auf.
Auf der Schule machte mir die übliche Ignoranz der Lehrer einen häßlichen und dauernden Eindruck. Unwahrscheinlich deformierte Bürger dösten und quälten zwischen Stammtischen und Grammatik. Humanistische Monstres. Ein Altphilologe, der aus dem Manöver zurückkam,modernisierte den Cäsar, rüstete ihn mit Maschinengewehren aus und ließ die Legionäre locker ausgeschwärmte Schützenlinien bilden. Ein Wort beunruhigt mich heute noch: frumentarium, das Getreidewesen'. Was ist das? Wir hatten einen Physikprofessor, einen schweigsamen Waldläufer, der einmal die Rede zu Kaisers Geburtstag halten sollte und damit begann: "Wenn ich zwei Frösche in ein Glas Wasser setze..." Von der Sexualität der Frösche kam er dann auf das geeinte Vaterland zu sprechen. Bei der Lektüre des Platon wurde der Hauptwert auf das,men te kai ouden` gelegt, mitnichten aber so wenn nämlich hinwiederum. Platon selbst hatten die Pauker so wenig begriffen wie wir.
Das entscheidende Erlebnis war natürlich Karl May, und der Tod Wnnetous war mir erheblich wichtiger als der des Achill und ist es mir geblieben. Ich flog aus dem Abitur und kam in ein Landgymnasium. Sonntags betrank ich mich im Karzer und las Detektivromane, Wedekind oder Rimbaud.
Das Nest war entsetzt, daß ich es wagte, die Wohnung eines früheren Majors des dort garnisonierten Dragonerregimentes zu beziehen. Der Pedell mußte mich stets in die Penne abholen. Nachmittags lief ich auf einen kleinen Berg und trank dort in einem Resenfaß. Natürlich hieß die Kneipe,Perkeo`. Der Blick in die ermüdende Rheinebene war dermaßen verzweifelt, daß ich in diesem Faß zu schreiben begann. Die Kellnerin, die mich bediente, hatte mit einem bekannten deutschen Dichter ein Verhältnis; allerdings beklagte sie sich über dessen Nervosität. Dieser Mann wurde meine erste literarische Bekanntschaft.
Ich erinnere mich eines eigentümlichen Physikprofessors, der aus Religiosität nicht an die Gravitation glaubte, sowie des Lehrers im Griechischen, der im Dunst seiner bäuerlichen Pensionäre die Ursprachstämme suchte; dann gab es noch einen Direktor im blauen Gehrock, der unter einem Riesenphoto Goethes unablässig Iphigenie neu dichtete. Er glich vollkommen seinem mißgestimmten Griffon. Ich werde dieses ekelhafte Nest nie vergessen. Einmal besuchte mich ein Messias, der aus Bordeaux kam. Er schien aus Kleinasien zu stammen. Jedenfalls trank er fürchterlich und kannte sich ausgezeichnet in sämtlichen Hafenstädten aus.
Die wichtigsten Gebäude waren Zuchthaus und Schloß. Sonntags rasten die Bürger in dem französischen, geometrischen Park umher, grüßtenje nach der sozialen Lage, während ich im Kirchturm regelmäßig meine Karzerstrafen heruntersaß. Ich zog es vor, dort still die Sonntage zu verschlafen, statt mir die Nachmittage durch den Blödsinn der Lehrer zu verderben. In einem Koffer brachte ich mir Nahrung, Alkohol und eine Decke mit. Ich erinnere mich, einmal nachts in einem Hausflur gegen einen Erhängten gerannt zu sein.
Dann ging ich nach Berlin. Da wohnte ich in der Borsigstraße zwischen Studenten und Kokotten bei einer Frau Zilinsky. Nachts saß ich für mich im Cafe Zentral auf dem Hängeboden. Nach einem halben Jahr verirrte ich mich am Potsdamer Platz; so weit war ich noch nie gekommen. Dann zog ich nach dem Grunewald. In der Universität lernte ich Rubiner kennen. Nachts erzählten wir uns Abenteuerromane. Ich hatte aus Paris die 34 Bände Phantomas mitgebracht. Die liebsten waren mir: Le pendu de Londres et le fiacre de la nuit. Damals schrieb ich Bebuquin: Blei druckte das in den Opalen, und damit war man zwanzig und in der Literatur.

carl einstein:"Gustav Kiepenheuer zum 50. Geburtstag, 1930, S. 21 ff.

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