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MUSIK: Vertont in alle Ewigkeit

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21 Jahre 3 Wochen her #15060 von cntr
MUSIK: Vertont in alle Ewigkeit wurde erstellt von cntr
MUSIK

Vertont in alle Ewigkeit

Ein Tunnelbauer aus Halberstadt will der skurrilsten Idee der Musikgeschichte zum Durchbruch verhelfen: Ein Orgelstück von John Cage soll 639 Jahre lang nonstop erklingen.

Fast zwei Jahrhunderte war das Gotteshaus ein Saustall. Dort, wo im Mittelalter fromme Zisterzienserinnen die Hände falteten, wühlten seit den Napoleonischen Kriegen Ferkel im Schlamm. Noch in Honeckers Arbeiter-und-Bauern-Staat stank der Schweinkram zum Himmel.
Dann kam die Wende, und mit der DDR verduftete auch das Borstenvieh. St. Burchardi, das ehemalige Klostergemäuer am Rande von Halberstadt, schien endgültig dem Verfall preisgegeben - eine sakrale Bruchbude ohne Nonnen, ohne Koben und, wie es schien, auch ohne Zukunft.

Damals konnte im schläfrigen Halberstadt jedenfalls niemand ahnen, dass ausgerechnet in diesen Leerställen etwas anbrechen würde, das selbst mit Vokabeln wie Ära oder Epoche nur unvollkommen umschrieben ist: die Wiedergabe der Komposition "Organ2 /ASLSP" des amerikanischen Neutöners John Cage (1912 bis 1992) und damit eine neue musikalische Zeitrechnung.

Ach, ihr Freunde der Kunst, was heißt bei Cage schon Komposition, was Wiedergabe? Genauso wenig wie dieser schelmische Anarchist ein Tonsetzer im landläufigen Sinne war, ist sein Opus "Organ2" ein Stück für den philharmonischen Hausgebrauch. Es ist vielmehr ein nach dem Zufallsprinzip entworfenes Unikum und gilt deshalb unter den Hohepriestern der Moderne als Offenbarung des Johannes.

Die spärlichen, über vier DIN-A4-Blätter verstreuten Noten von "Organ2" müssen, getreu den fünf Großbuchstaben im Titel, "As SLow aS Possible" dargeboten werden, so langsam wie möglich. Was das bedeutet, soll nun in Halberstadt ausprobiert werden: Geradezu endlos wird die Darbietung dauern, genau 639 Jahre. Das heißt: Cage auf der Kriechspur. Cage über 25 Generationen. Cage bis zum Gehtnichtmehr - vertont in alle Ewigkeit.

Fürs Erste - sagen wir ruhig: für die nächsten Jahrzehnte - spielt sich das futuristische Marathon noch in kleinem Rahmen ab. Mehr als motorisch betriebene, sanft fauchende Blasebälge, sechs popelige Orgelpfeifen und ein winziges Manual, auf dem drei Tasten durch drei kleine Sandsäcke niedergehalten werden, ist derzeit in St. Burchardi nicht zu sehen - eine rudimentäre Klangmaschine, die sich eines fernen Tages allerdings zu einer Königin der Instrumente mausern soll, mit 650 Pfeifen von einem Zentimeter bis zu fünf Meter Länge.

Immerhin, dem seltsamen Provisorium entsteigen seit Anfang Februar drei Töne - immer die gleichen, und sie tuten tagaus, tagein: ein eingestrichenes Gis, ein eingestrichenes H, ein zweigestrichenes Gis. Diese Tonfolge ist die erste regelrechte Verlautbarung des Halberstädter Großunternehmens. Erst nächstes Jahr, am 5. Juli 2004, wird mit hohem und tiefem E klingender Nachwuchs erwartet. Schon heute ist die Vorfreude auf jeden hörbaren Zugewinn unter Eingeweihten grenzenlos. Das Projekt, versteht sich, bedarf der Engelsgeduld. Schließlich handelt es sich um Zukunftsmusik von kosmischem Timing.

Gleichwohl wird Cages Dauerwelle, die sich nun nonstop in dem entmüllten Kirchlein verbreitet, längst von aktuellem Getöse untermalt. Eine Homepage für den Mega-Cage ist eingerichtet. Im Internet eskaliert der Glaubenskrieg zwischen verzückten Jüngern und stänkernden Gegnern des Endloskonzerts. Wer dem Unternehmen zugetan ist, kann für 1000 Euro das Patronat über ein bestimmtes Jahr innerhalb der erwarteten Spielzeit erwerben. Zwölf Jahre sind auf diese Weise bereits vergeben; die bislang zeitfernste Buchung: anno 2480.

Schon sind Halberstädter in die USA gereist, um an Cages Wirkungsstätten über Germanys "ASLSP" zu dozieren. Umgekehrt haben sich erste Interessenten aus Übersee zur großen Hör- und Geduldsprobe angesagt. Die Hotels vor Ort belohnen auswärtige Cage-Pilger mit Rabatt. Burchardi, wer weiß, könnte das Bayreuth der Neutöner werden.

"Jeder Tonwechsel", verkündete jedenfalls der Halberstädter Oberbürgermeister Hans-Georg Busch, als die Cage-Orgel jüngst auf den ersten Löchern zu pfeifen anhub, werde künftig "ein Ereignis sein" und das bislang abseitige Gemeinwesen "weltbekannt machen".

"Der Politik täte der Mut, der zu so einem Projekt gehört, manchmal auch sehr gut", verkündete die eigens aus Berlin vorgefahrene Kulturstaatsministerin Christina Weiss - unter Berücksichtigung der langen Bank, auf die Cage nun geschoben worden ist, nicht gerade rosige Aussichten für den Reformstau bei Rot-Grün.

Dass das skurrilste Abenteuer der Musikgeschichte überhaupt starten konnte, ist letztlich einem Außenseiter zuzuschreiben, der, wie er sagt, "noch bis vor kurzem mit Cage nicht viel anfangen konnte": dem promovierten Geophysiker Michael Betzle, 59.

Hauptberuflich baut Betzle Tunnel. Seine Firma hat für die neue ICE-Strecke zwischen Köln und Frankfurt Westerwald und Taunus durchbohrt; derzeit lässt Betzle Löcher in den Thüringer Wald und in fernöstliche Felsen fräsen. Er guckt, keine Frage, mit Kennerschaft in die Röhren und auch mit Lust ins Kulturgewusel. Neuerdings bemüht er sich um einen Durchblick zu Cage, dem wunderlichen Provokateur, und dessen nicht minder verschrobenen Apologeten.

Betzle kann sich jedenfalls noch gut erinnern, als 1998 plötzlich "ein Schwarm seltsamer Vögel" in Halberstadt einfiel. Die Herrschaften, sämtlich durch profunde Einsichten in Cages Schöpfertum gebenedeit, hatten bei einem Orgelseminar in Trossingen über die existenzielle Frage palavert, wie langsam "Organ2 " denn nun tatsächlich aufgeführt werden könnte, sollte, dürfte, müsste: gerade mal 29 Minuten, die der Uraufführungsinterpret Gerd Zacher 1987 gebraucht hatte? Oder so lange, wie ein Organistenleben währt? Oder bis dem windigen Instrument die Puste ausgeht?

Alles profaner Kleinkram, hatte das Gremium nach theologisch-philosophischem Diskurs befunden: Cage müsse gleichsam bis in alle Ewigkeit durch Tuten und Blasen beatmet werden, und zwar in Halberstadt und nur da. Im dortigen Dom war nämlich 1361 die erste moderne Großorgel installiert worden, der Ort sei heilig.

Anfangen sollte der XXL-Cage zur Millenniumswende 2000 - exakt 639 Jahre nach der Weihe der historischen Halberstädter Domorgel. Und genau 639 Jahre lang sollte er tönen, ein Dauerläufer noch für Kindeskindeskindeskinder.

Die verarmte Stadt, die plötzlich zum Gravitationszentrum zeitgenössischer Tonkunst auserkoren war, übernahm mangels Geld wenigstens die Patenschaft über das Projekt. Tunnelbauer Betzle wurde Geschäftsführer der John-Cage-Orgel-Stiftung, der die Burchardi-Kirche für einen symbolischen Euro von der Stadt übereignet wurde.

Kaum in Gang, geriet das Unternehmen auch schon ins Stocken. Die Orgelbauer zerstritten sich über der Frage, wie das Windspiel beschaffen sein müsste, um die Dauerbelastung durchzustehen. Die Cageologen waren uneins, wie "Organ2" zeitlich über mehr als sechs Jahrhunderte gestreckt und dabei musikalisch angemessen arrangiert werden sollte.

Damit das auf rund 500 000 Euro taxierte Projekt überhaupt angepackt werden konnte, übernahm Betzle schon mal die Kosten zur Herstellung und Montage der sechs Blasebälge, ging auf Suche nach einer "Versicherung, die von sich behauptet, dass sie so sicher ist, um 639 Jahre durchzuhalten", und forschte nach einer Bank, "die wirklich Vertrauen in die Zukunft hat". Doch mit dem Vertrauen in die klingende Zeitreise war das so eine Sache: Der Starttermin platzte.

Dann, am Vorabend des 5. September 2001, ging endlich die Post ab. Mit Wasser plätschernde Nixen turnten in Badeanzügen durch den einstigen Andachtsort, athletische Jünglinge ließen diverses Gestein klickern und klackern - Halberstadt stimmte sich mit Schnickschnack und Schampus auf die Stunde null ein.

Punkt Mitternacht bestiegen dann sechs stämmige Burschen die Blasebälge und machten Wind für Cage. Und siehe da: Das noch mickrige Orgelchen atmete.

Aber außer dem leicht asthmatischen Schnaufen der Blasebälge war kein Ton zu hören - ganz im Sinne von Schlitzohr Cage, der "Organ2" mit einer Viertelpause, mit "gestalteter Stille", beginnen ließ. Dass nach der Auftakt-Performance also erst mal wieder 17 Monate lang Ruhe herrschte, war somit absolut werkgetreu.

Die Ruh ist nun hin. Anwohner, die sich in Nachbarschaft zu St. Burchardi zur Nacht betten, klagen seit Wochen über Belästigung durch das vernehmbare Dreigetön. Tunnelbauer Betzle hat Abhilfe versprochen und will die Kirche durch Doppelfenster akustisch abdichten.

Doch in ungefähr 150, 200 oder 250 Jahren - ganz genau steht das bei der extremen Spieldauer naturgemäß nicht fest - droht neues Ungemach. Dann pustet die Orgel in voller Dröhnung - keinen süffigen Akkord wie momentan, sondern eine schrille Disharmonie. Und die über Jahre.


mfg. cntr :wink:

07.04.2003 - spiegel.de

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