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Black saint and the sinner lady
(1963)
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Die Jury der Deutschen Jazz-Föderation vergab viermal den Preis für die beste moderne Combo- oder Ensemble-Aufnahme an Mingus-Schallplatten (1960: Ah Um, sowie Blues & Roots. 1962: Mingus Presents Mingus. 1963: Tijuana Moods). 1964 wurde nun die LP »The Black Saint And The Sinner Lady« mit dem Kompositions-Preis gewürdigt, und in der Tat liegt auch die Großartigkeit dieser Schallplatte im kompositorischen Bereich. Joachim E. Berendt gab einem seiner Aufsätze die treffende Überschrift »Mingus und der Schatten Duke Ellingtons«. Auf der vorliegenden Platte und auf »Pre Bird« ist der Schatten Ellingtons am stärksten. Aber gleichzeitig ist er auch verarbeitet und in eine intellektuellere Form gebracht worden. Wenn es auch im Jazzbereich was Swing, Drive und Exciting anbetrifft mitreißendere Platten gibt, so ist dies vom kompositorischen Gehalt her das eindrucksvollste Werk, das Mingus geschrieben und aufgezeichnet hat, kurzum ein Meilenstein des modernen Jazz.
»>The Black Saint And The Sinner Lady< ist angelegt wie eine der großen Ellington-Suiten. Man wird an Dukes >Black, Brown And Beige< von 1944 erinnert.« (Joachim E. Berendt). Ein anderer Publizist, der Italiener Arrigo Polillo, schreibt in seinem großartigen Buch »Jazz, Geschichte und Persönlichkeiten der afro-amerikanischen Musik«: »Irgendjemand hat diese Suite, die beide Seiten einer Langspielplatte einnimmt, mit >Black, Brown And Beige< von Ellington verglichen, nicht nur wegen ihrer Bedeutung, komplexen Struktur und vieler gelungener Teile, sondern auch bezüglich der Verwendung des Wah-Wah-Dämpfers, welcher den alten Dschungel-Stil in Erinnerung ruft, und der Akzente ä la Johnny Hodges im Altsaxophon von Charlie Mariano. Obwohl die Verwirklichung der Suite eine Plackerei darstellte - die ganze Aufnahme ist praktisch eine Collage aus Fragmenten, die trotz der Anschuldigungen von Mingus mit Engelsgeduld von Bob Thiele zusammengefügt wurden - kann man die Einheitlichkeit des Werkes und das Gleichgewicht seiner Teile untereinander bewundern. Spannung und ziemlich wilde Leidenschaft, wie sie in den besten Schöpfungen des Musikers anzutreffen sind, werden hier herausgestellt, und der geleistete Beitrag von Charlies Solisten ist sehr wirkungsvoll. Bob Thiele, der enge Arbeitsbeziehungen zu Mingus unterhielt, als er die Mingus-Platten für Impulse produzierte und von ihm - wie viele andere -öffentlich der Lüge und des Betruges bezichtigt wurde, bezeichnet ihn als einen Mann, in dem Sanftmut, Freundlichkeit und Liebesbedürfnis wie verschiedene Farben des gleichen Spektrums in Reizbarkeit, Gemeinheit, gröbste Unflätigkeit und Gewalttätigkeiten übergehen und damit abwechseln.« Was war geschehen? Die Behauptungen des Musikers Mingus und des Produzenten Thiele gehen auseinander. Mingus behauptete nach Veröffentlichung dieser Platte, daß Bob Thiele — nicht autorisiert von Mingus - das Band zerschnitten und das Beste gelöscht habe. Bob Thiele behauptet, die ganze Musik sei nicht in Form einer Suite oder in Form von einzelnen Kompositionen zusammenhängend eingespielt worden, sondern in Form von Fragmenten und Sequenzen, die man durch Schnitte und Zusammenfügung zu einer Suite machen mußte. Als Hörer kann man nur sagen, wenn das so war, dann hat der Produzent Bob Thiele hervorragende Arbeit geleistet. Nicht ausgeschlossen ist aber auch, daß Mingus verärgert war, weil Impulse sich entschloß, nicht mit Mingus weiterzuarbeiten. Es blieb also bei den drei Platten, die Mingus im Januar, Juli und September 1963 für Impulse einspielte. Immerhin hat Mingus zunächst nach der Aufnahme folgendes geäußert: »Da ist Bob Thiele. Danke, daß du zu meiner offenen Town-Hall-Session gekommen bist, meine Musik angehört hast, du mochtest sie, und daß du
meine Band für deine Firma angeheuert hast.«
Das deutet daraufhin, daß die Bitterkeit von Mingus später hinein kam, als er merkte, daß Impulse nicht weitere Aufnahmen machen wollte, wofür Mingus wohl insgeheim den Produzenten verantwortlich machte. Nun darf man nicht übersehen, daß dies ein Spiel der freien Kräfte ist, denn ein Produzent oder eine Plattenfirma sind genau so verbittert, wenn sie Geld und Arbeit in einen Künstler gesteckt haben und dieser sich entschließt, zu einer finanzkräftigeren oder vielversprechenderen Firma überzuwechseln. »Track A - Solo Dancer« wird von Dannie Richmond mit drei verschiedenen rhythmischen Figuren eingeleitet, die Mingus zuvor schriftlich fixierte, es folgt die Band mit einem Sound, der sehr nahe an Duke Ellingtons Klangbildern ist, wobei der Baritonsaxophonist Jerome Richardson die Rolle des langjährigen Ellington-Baritonsaxophonisten Harry Carney und Charlie Mariano die Rolle von Johnny Hodges übernimmt. In Jerome Richardsons langem Sopransolo zeigen sich Einflüsse von John Coltrane. Dieser hatte die Jazzwelt mit seiner aufsehenerregenden Platte »My Favorite Things« auf das Sopransaxophon aufmerksam gemacht, obwohl der eigentliche Pionier für dieses Instrument im modernen Jazzbereich Steve Lacy war.
»Track B - Duet Solo Dancers« beginnt mit einer Ballade, dann, nach einem Ellingtonschen Piano-Interlude, wechselt die Band ins doppelte Tempo über, wobei das Trompetensolo an Bubber Miley erinnert, der von 1926 bis 1929 bei Duke Ellington mitwirkte. Bubber Miley hatte mit seinen Growl-Effekten wesentlichen Anteil an Duke Ellingtons Jungle-Style, der weniger aus musikalischen Gründen entstand, sondern um dem Wunschbild des weißen Publikums über schwarze Musik im damaligen New Yorker »Cotton Club« entgegenzukommen. Mit seinen Soli hatte Bubber Miley wesentlichen Anteil an den Stücken »Black And Tan Fantasy«, »Hast St. Louis Toodle-oo«, »Black Beauty« und »Creole Love Call«. »Track C - Group Dancers« wird von drei Piano-Soli eingeleitet, wobei das erste und dritte Solo von Mingus und das zweite von Jaki Byard gespielt wird. Die beiden Soli waren von Mingus ursprünglich im Studio vorgespielt worden, um Jaki Byard den Charakter der Komposition und der Einleitung zu erklären. Bob Thiele fügte dann später - mit der Erlaubis von Mingus - diese beiden Klaviersoli mit ein. Auch hier wieder eine erstaunliche Nähe zu Duke Ellington! Das Stück führt durch ganz unterschiedliche Stimmungen, wobei Jay Berliner, der ehemalige Gitarrist des Sängers Harry Belafonte, mit einem sehr sympathischen Solo im spanischen Stil auffällt, gefolgt von Charlie Mariano mit einem langen Solo, das leider durch einen Schnitt abrupt endet. Zumindest hier ist Bob Thiele ein gravierender Fehler unterlaufen, denn daß Mingus dies so freigegeben haben soll, ist schwer vorstellbar. In »Mode D, E und F« - das als durchgehende Suite auf der zweiten Seite festgehalten wurde - hat Mingus nach dem beginnenden Ellington-Sound ein Gitarrensolo für Jay Berliner geschrieben, zu dem wiederum der Pianist und Arrangeur Bob Hammer die Einleitung und den Ausklang schrieb. Mit diesem klassischen Gitarrensolo entfernt sich Mingus bereits vom Ellington-Sound. Nun bekommt auch der Orchesterklang immer stärker Mingus'sehen Charakter, mit freien Orchesterpassagen, in denen Anklänge an die Aufnahmen von »Tijuana Moods« zu hören sind. In dem weiteren Verlauf dieser Suite wird Charlie Mariano ganz groß herausgestellt. Musikfreunde, die ihn nur von seiner Arbeit kennen, seitdem er in Europa lebt, sei empfohlen, diese Platte anzuhören, um sich klar zu machen, über welch breites Spektrum und enorme Aussagekraft dieser Musiker verfügt.
Mingus schrieb zu dieser Platte: »Werft alle meine Platten mit einer Ausnahme weg. Ich möchte am liebsten alle meine Platten neu für Impulse aufnehmen. Es ist das erste Mal, daß eine Firma mir half, meinem Publikum ein klares Bild von meinen musikalischen Ideen zu geben und zwar ohne das übliche Studiogehetze. Impulse hatte große Ausgaben und gab mir die Freiheit, mit dem Ton-Ingenieur Bob Simpson an der Balance des Sounds und des Editierens zu arbeiten.«
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Let my children hear music
(1971) danke juke_box
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1971 erhielt Mingus von dem Produzenten Teo Macero den Auftrag, eine Platte für Columbia einzuspielen. Mingus wollte die LP »Let My Children Hear Music« ursprünglich in kleiner Besetzung bringen und lediglich die Komposition »The Chill Of Death« in großer Besetzung aufnehmen. Aber Verantwortliche der Plattenfirma Columbia erklärten ihm, daß es unwirtschaftlich sei, alle diese Musiker nur für einen Titel zu engagieren, und fanden es sinnvoller, gleich Big-Band-Aufnahmen zu konzipieren. Alan Ralph, der als Conductor für diese Aufnahmen engagiert wurde, bestellte den Posaunisten Jimmy Knepper für die Einspielungen. Mingus und Jimmy Knepper hatten seit dem Streit vor neun Jahren nicht mehr zusammen gearbeitet und sie redeten während dieser Sitzungen auch kein Wort miteinander. »The Shoe's Of The Fisherman's Wife Are Some Jive ASS Slippers« wurde bereits 1965 unter dem Titel »Once Upon A Time There Was A Holding Corporation Called Old America« auf der nicht mehr erhältlichen Platte »Music Written For Monterey 1965, Not Heard .. . Played In It's Entirety At Ucla« eingespielt und erschien bei der früheren kleinen Plattenfirma »Jazz Workshop« von Mingus. Da diese Einspielung mit einem Oktett erfolgte, und die Noten dazu nicht mehr oder nie vorhanden waren, hat Sy Johnson die Musik von der Platte abgehört, transkribiert und für große Besetzung orchestriert, das gleiche gilt für das Stück »Don't Be Afraid, The Clown's Afraid Too«. Sy Johnson bat Mingus um Hilfe bei der Transkription, der aber erklärte, sich nicht mehr erinnern zu können. Von Sy Johnsons Orchestrierung kann man nur mit Respekt sprechen, denn trotz der großen Besetzung wirken die Arrangements nie schwerfällig. Das Eröffnungssolo von »Don't Be Afraid, The Clown's Afraid Too« wird von dem Trompeter Snooky Young geblasen. Es ist auf Wunsch von Mingus genauso konzipiert, wie es Jahre zuvor von dem Trompeter Hobart Dotson in einem Konzert gespielt wurde. Mingus wollte es in der gleichen Form wiederhaben, als Widmung für die Witwe und die Kinder des verstorbenen Dotson. In dieser Komposition finden wir etwas von dem Geist Kurt Weills wieder. Zudem wurden Geräusche aus aus einer Sportarena eingeblendet.
»Adagio Ma Non Troppo« ist eine Bearbeitung von dem Pianosolostück »Myself When I Am Real«, das wir auf dem Album »Mingus Plays Piano« bei Impulse finden. Das gestrichene Cellosolo wird von Charles McCracken gespielt.
»Hobo Ho« hatte Mingus ursprünglich für das kurz zuvor erhaltene Guggenheim-Stipendium geschrieben. Es wird eröffnet von ihm am Baß, dazu steigt dann der Tenorist James Moody ein, der über das Thema im halben Tempo phantastisch improvisiert. Das ist beste Mingus- und Jazztradition. Das Poem und die Musik zu »The Chill Of Death« schrieb Mingus bereits 1943. Das Gedicht trägt Mingus hier sehr eindrucksvoll vor. Auch die Orchestrierung stammt von ihm.
Im letzten Titel »The I Of Hurricane«, ist die Orchestrierung wieder von Sy Johnson. »The I Of Hurricane« war der Spitzname, den Sue Graham Mingus während ihrer Kindheit von ihren Brüdern erhielt. Die Solisten im Stück sind entweder Charles McPherson oder Jerry Dodgion, sowie Bobby Jones und Julius Watkins.
Der Anteil von Sy Johnson zum Gelingen der Produktion war gewaltig. Seine Orchestrierung im besten »Mingus-Geiste« trug ihm allerdings nur Schwierigkeiten ein. Es kam zum Streit mit dem Bassisten, weil dieser auf der Plattenhülle »Orchestration by Charles Mingus« gedruckt haben wollte, ohne den beträchtlichen Arrangieranteil von Johnson zu erwähnen.
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Changes one
(1974)
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In dieser Besetzung war Mingus nicht nur in den Staaten, sondern auch in Europa in sehr vielen Orten zu hören, u.a. auch eine Woche im Münchner Jazzclub »Domicile« in der Siegesstraße. Die Band fand viel Beifall und Freunde unter den Zuhörern, vor allem bei den jüngeren Anhängern des Free Jazz. Zu »Remember Rockefeiler At Attica« - das Stück hieß zuerst »Just For Laughs Saps« -schrieb Mingus die Melodie und gab später dem Stück den neuen Titel. Sein Kommentar: »Ich möchte, daß die Leute durch den Titel zum Nachdenken angeregt werden, denn ich halte Rockefeiler für einen gefährlichen Mann. Wir sollten uns daran erinnern, daß er es war, der bei einem Aufstand der Gefängnishäftlinge von Attica hinging und Insassen zusammenschießen ließ.« Die Komposition »Sue's Changes«, zuvor »Sue's Moods«, widmete Mingus seiner letzten Lebensgefährtin: Susan Graham. Es werden verschiedene Stimmungen beschrieben, durch die Susan hindurchgeht. Das Stück beginnt zurückhaltend und wechselt zu frecher Sicherheit und Selbstbehauptung. Das Piano leitet zu einem romantischen Teil über, dem eine »normale« Phase folgt, dann kommt wieder das Piano mit einem kurzen Gefühlsausbruch. Das Tenorsaxophon klingt zärtlich, wird dann aber fordernder und dreister. Es folgt eine versöhnliche Stimmung, die in Hektik übergeht und wieder mit Versöhnlichkeit endet. In der Regel haben Jazzmusiker wenig mit solchen Stimmungsbildern zu schaffen: Oft werden sie lediglich als Vehikel für ihre Improvisationen verwendet. Das dürfte auch einer der Gründe sein, warum bis heute im Jazz die Komposition oft nur Fragmente oder Bruchstücke eines größeren Werkes sind. Ellington und Mingus waren gelegentliche Ausnahmen. »Devil Blues« beginnt mit einer Baßeinleitung von Mingus, dann steigt George Adams mit einem bluesigen Shout-Vocal ein. Clarence »Gatemouth« Brown, der dieses Stück unter »The Drifter« einspielte, schrieb den Text. »Devil Blues« setzt die alte schwarze Bluestradition fort.
Duke Ellingtons »Sound Of Love«, das Mingus kurz nach dessen Tod schrieb, ist eine weitere Huldigung an den Duke. Seit Mingus als Junge das erste Mal Ellington mit »East St. Louis Toodle-Oo« im Radio hörte, hegte er Bewunderung und Verehrung für ihn. Daß er später das Glück hatte, im Orchester von Duke Ellington mitzuwirken und eine Piano-Trio-Platte mit ihm einzuspielen, mag man als Glückstreffer bezeichnen, für Mingus bedeutete es weitaus mehr. »Duke Ellington's Sound Of Love« hat etwas von der Romantik und Substanz, die so viele Kompositionen Duke Ellingtons auszeichnet. Don Pullen fügt sich harmonisch in diese Stimmung ein, und George Adams setzt die Tradition von Ben Webster fort. Das Stück steht für die ganze Platte und das bedeutet in diesem Fall Ausgewogenheit.