... und gleich noch was zum lesen dazu.
Richard Galliano
Jazz tanzt Musette
Daß ich meine Musik "New Musette" nenne, tue ich nicht, weil ich sie in eine Schublade einordnen will, sondern eher, weil ich ein bißchen Verwirrung stiften will. Es gibt den Jazz und es gibt die Musette - und ich mache weder das eine noch das andere. Wenn ich heute einen Musettewalzer spiele, dann denke ich an den Schlagzeuger Elvin Jones oder an die Kraft von John Coltrane.
Als Entdecker des Akkordeons für den Jazz wurde Richard Galliano seit Anfang der 90er Jahre bekannt. Der 1950 in Cannes geborene Franzose schenkte diesem im Jazz bislang relativ unbedeutenden Instrument neues Leben und reifte zu einer unverkennbar eigenständigen europäischen Instrumentalstimme heran.
In seinem passionierten, dramatischen, bisweilen auch geradezu zärtlichen Akkordeonspiel sind deutlich Einflüsse der Musette, der traditionellen Musik der Pariser Vorstädte, auszumachen. In Frankreich ist das Akkordeon untrennbar verbunden mit der Musette. Diese Tanzmusik entstand Anfang des Jahrhunderts in Paris, als italienische Einwanderer zusammen mit den Manouches, den Zigeunern, die Tanzsäle in den Pariser Spelunken mit einer neuen, wilderen Musik aufmischten. Während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit war das Akkordeon in Frankreich eng verbunden mit der populären Musikkultur. In den 60er Jahren wurde ihm die Nähe zu Chanson und Musette zum Verhängnis; die jüngeren Musiker lehnten die angestaubte Quetschkommode ab, die älteren spielten unbeirrt ihre Tanzmusik wie zu Beginn des Jahrhunderts. Richard Galliano hat die Musette rhythmisch und harmonisch erweitert, angelehnt an führende Jazzsolisten wie Bill Evans, Keith Jarrett, Charlie Parker und John Coltrane. Er hat sie als New Musette wieder zu neuem Ansehen gebracht.
Begegnungen
Richard Galliano spielt seit seinem vierten Lebensjahr Akkordeon. Schon sein Vater, aus Italien eingewandert, war Akkordeonist und vermittelte seinem Sohn die Grundlagen der Musik. Am Konservatorium in Nizza studierte Richard dann Harmonielehre und Kontrapunkt und spielte als Zweitinstrument Posaune.
- Normalerweise gibt es nur zwei Möglichkeiten für Akkordeonisten: Tanzmusiker zu werden oder Lehrer, beides wollte ich nicht. - In Paris arbeitete er zunächst sieben Jahre mit dem Sänger Claude Nougaro, begleitete Yves Montand und Juliette Greco und spielte Filmmusiken mit Michel Legrand und Serge Gainsbourg ein. Seine erste Jazzplatte machte Galliano 1981 mit dem Trompeter Chet Baker und Novos Salsamba.
1985, als er bereits ein gefragter und etablierter Akkordeonist war, lernte Galliano den Bandoneonspieler und Komponisten Astor Piazolla kennen, Grenzgänger zwischen argentinischem Tango, Jazz und klassischer Musik. Bis zum Tod des großen Musikers 1992 war Galliano eng mit ihm befreundet. Eines Abends in Paris habe ich alle Aufnahmen gehört, die ich von Astor Piazolla hatte, und ich bin richtig eingetaucht in seine Musik. Und als ich danach, es war schon früher Morgen, ein Stück geschrieben habe, war es natürlich sehr beeinflußt davon. Ich habe es Claude Nougaro gezeigt, einem französischen Sänger, dessen Orchester ich zu der Zeit leitete, und er hat daraus einen Chanson gemacht, der ziemlich erfolgreich wurde. Als wir es dann das erstemal im Pariser "Olympia" gespielt haben, war Piazolla zufällig im Saal. Nach dem Konzert ist er hinter die Bühne gekommen ... Ich war begeistert von der Idee, die traditionelle Volksmusik dem Jazz und anderen Stilen gegenüber zu öffnen. Und es war auch Astor, der mir gesagt hat: "Ich habe den New Tango gemacht, jetzt mußt du die New Musette erfinden." Und das habe ich dann getan.
Für seine Verdienste um die Musik erhielt Richard Galliano 1992 den Prix Django Reinhard der Academie du Jazz, die höchste Auszeichnung, die in Frankreich an Jazzmusiker verliehen wird. 1994 war der Akkordeonvirtuose Gast und Highlight auf allen großen internationalen Sommerfestivals: Paris, Antibes, Montreux, Den Haag, Brüssel, Perugia, Berlin, Stuttgart, Nürnberg, Prag, Bratislava, Zürich, Lugano, Basel u.a. Seine musikalische Neugier hat ihn mit sehr unterschiedlichen Musikern zusammengebracht. So mit den französischen Jazzmusikern Daniel Goyone und Michel Portal, Jean Francois Jenny-Clarke und Daniel Humair, mit dem Bassisten Ron Carter, dem italienischen Trompeter Enrico Rava oder dem algerischen Oud-Spieler Anouar Brahem. In Deutschland ist Galliano gut auf CDs vertreten. "Viaggio" stellt ihn gemeinsam mit Bireli Lagrene (Gitarre) vor. Bei "Laurita" sind seine Partner Michel Portal (Klarinette), Didier Lockwood (Geige), Toots Thielemann (Mundharmonika), Palle Danielsson (Baß) und Joey Baron (Schlagzeug). Auf seiner CD "New York Tango" schlägt Richard Galliano ein Bilderbuch voller Emotionen auf, mit Erinnerungen an die Wurzeln seiner Musik, die Musette, den Tango und den Gypsy-Swing (gemeinsam mit dem Gitarristen Bireli Lagrene, Al Foster am Schlagzeug und George Mraz, Kontrabaß). Das Titelstück ist seine ganz persönliche Brücke zur Neuen Welt, ein Salut an Piazzolla und auch an Lenny Bernstein. Im Opern-Projekt von Enrico Rava ("Rava L«Opera Va") improvisierte Galliano mit Rava zusammen eindrucksvoll über Themen von Puccini, Pergolesi und Bizet.
Meloman und Erzähler
Man kann alles spielen auf dem Akkordeon. (...) Natürlich hat jedes Instrument Grenzen, aber vor allem sind es die Musiker, die ihre Grenzen haben, ich auch. Ich glaube, man muß fast hineinkriechen in das, was einem als Grenze erscheint. Ich entdeckte ständig Dinge auf meinem Akkordeon, von denen ich vor einigen Jahren niemals geglaubt hätte, daß man so etwas spielen kann.
Galliano bezeichnet sich selbst als Melomanen, der wie ein Pyromane nach Feuer, süchtig ist nach Musik und schönen Melodien. Und er ist Poet. Die Musik, die ich heute spiele, wird aus all dem gespeist, was ich erfahren habe, und was ich liebe. Nach einem seiner Berliner Konzerte las man in der Berliner Morgenpost: "Galliano vollbringt das Kunststück, die Töne so leicht und luftig durch den Kirchenraum schweben zu lassen, daß man sich an einem Frühlingstag in einem französischen Straßencafe wähnt, während draußen die letzten Schneeflocken des Winters umherwirbeln."
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Herbatman